top of page

7 Todsünden • Gula oder Völlerei

  • Autorenbild: R. W.
    R. W.
  • 29. Juni
  • 3 Min. Lesezeit



Völlerei, eine der klassischen sieben Todsünden, hat ihr Gewand gewechselt. Heute tritt sie nicht mehr als moralische Verfehlung auf, sondern als psychologische Herausforderung:

als Esssucht, als zwanghaftes Konsumverhalten, als chronisches Kompensieren der inneren Leere durch ein ständig hungriges "Mehr".



Was sagt die Psychologie dazu?


Aus psychologischer Sicht dient Völlerei häufig der Affektregulation. Essen beruhigt. Schon früh verknüpfen wir Sättigung mit Geborgenheit. Der Schokoriegel nach schlechten Nachrichten, der Snack gegen die Traurigkeit, das Eis, wenn wir als Kind unser Knie aufgeschürft haben. Solche Erlebnisse prägen das Belohnungssystem. Später wird Essen zur kurzfristigen Strategie gegen Stress, Leere oder Einsamkeit.



Neurobiologie der Völlerei


Essen stimuliert zwei Bereiche unseres Gehirns: Ein Bereich wird durch Dopamin angetrieben und der andere durch Enkephalin, ein körpereigenes Opiat ähnlich wie Heroin. Wenn wir Essen sehen oder trinken wollen, wird unser Neostriatum mit diesen Opiaten geflutet.

Dies kombiniert mit Dopamin belohnt uns für den Konsum von Nahrung und macht uns süchtig nach dem Essen und das so viel wie möglich.


Und was auch interessant ist: Dinge wie Alkohol, Drogen oder Glücksspiel sowie Binge-Watching oder das Scrollen durch Social Media werden durch dieselben Belohnungssysteme angetrieben.



Wann wird Essen krankhaft?


Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist fließend. Bei Essstörungen wie Binge-Eating oder Bulimie ist sie klar überschritten. Diese Störungen sind keine Frage des Willens, sondern oft Reaktionen auf Traumata, Unsicherheit oder Überforderung. Die Existenzfluchthypothese besagt, dass Menschen bei Bedrohung ihres Lebenssinns ins Völlern verfallen könnten, um dieser Erfahrung zu entkommen. Dr. Andrew Moynihan von der Universität Limerick in Irland erklärt, dass viele Dinge unseren Lebenssinn bedrohen können. Von schweren Traumata bis hin zu alltäglicher Langeweile. Tristesse kann gefährlich sein, weil sie unser Gefühl von Zweck und Bedeutung im Leben bedroht. Dadurch könnten Menschen zu ungesundem Essen oder Alkoholkonsum greifen.



Soziale und kulturelle Kontexte


In Ländern wie Italien oder Japan wird Essen nicht nur konsumiert, sondern zelebriert und das bewusst und mit Freude. Studien zeigen: Gemeinsames Essen stärkt Bindungen, verbessert die Stimmung und wirkt antidepressiv.



Schräg und traurig


Neben der einsamen Völlerei gibt es auch die so genannte performative Völlerei. Es sind Esswettbewerbe, die besonders in den USA und Japan stattfinden. Joey Chestnut beispielsweise verdiente eine halbe Million Dollar als Wettesser. Diese Formen der Völlerei verkörpern Entfremdung und Eskalation.


Sein berühmter historischer Vielfraß war Tarrare aus Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution. Er aß alles Mögliche, von Schlangen bis zu Nägeln, und machte daraus eine Show. Nun, alt ist er nicht geworden und überhaupt ist das eine sehr, sehr traurige Geschichte.



Soziale Herkunft und Essverhalten


Überkonsum wird oft als eine persönliche Schwäche interpretiert. Doch Armut und soziale Ungleichheit sind hier oft entscheidende Faktoren. Günstige, hochverarbeitete Lebensmittel mit viel Zucker, Fett und Salz sind häufig die realistischere Option für Menschen mit geringem Einkommen. Macht satt, schmeckt bestechend und ist erschwinglich. Laut dem Robert Koch-Institut zeigen insbesondere Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien ein höheres Risiko für Übergewicht. Hier geht es nicht um „Zügellosigkeit“, sondern um strukturelle Benachteiligung, die Völlerei zur Notlösung macht.



Scham und Stigma


Essverhalten ist sichtbar und damit öffentlich be- und verurteilbar. Menschen mit Essstörungen oder Übergewicht erleben häufig doppelte Scham über ihr Verhalten und über dessen sichtbare Folgen. Diese soziale Stigmatisierung verstärkt das Problem, da sie Rückzug, Isolation und weitere emotionale Belastung fördert. Studien zeigen, dass gewichtsstigmatisierendes Verhalten selbst zu ungesünderem Essverhalten führen kann. Der Teufelskreis dreht sich durch Vorurteile genährt weiter.



Sechs Wege zur Mäßigung


  • Langeweile enttarnen:

    Statt Serien zu bingen, könnten es Spaziergänge, neue oder alte Hobbys, interessante, sinnige Projekte sein. Auch hilft Bewegung Dopamin zu regulieren.



  • Sozial(er) werden:

    Gemeinsam kochen, nicht heimlich snacken. Bindung statt Betäubung.



  • Anders essen:

    Langsamer, bewusster, mit kleinen Ritualen: z. B. 30-mal kauen, erster Bissen mit geschlossenen Augen.
 Wieder mal riechen und schmecken. Vor allem sich Zeit nehmen.


  • Echtes Essen wählen:

    Unverarbeitete Lebensmittel statt aromatisierte Ersatzprodukte. Eine süße, rote Tomate statt Tomatenchips.
 Warum? Unser Geschmackssinn, war früher mal ein verlässlicher Instinkt für Nährstoffe, die unser Körper benötigte. Er wird aber heute oft getäuscht durch industriell verarbeitete Lebensmittel. Sie schmecken zwar intensiv, liefern aber wenig Substanz.


    Ein Beispiel: das moderne Huhn. Geschmacklich abgestumpft durch Zucht und Futter, während aromatisierte Produkte immer beliebter werden. Unser Geschmackssinn ist überreizt und deshalb bleiben wir oft hungrig.


    Das Gehirn so: "Hmmmm, lecker!"

    Der Körper so: "Ist das schon alles?"

    Die Folge daraus ist: Wir essen weiter, obwohl wir längst satt sein sollten.



  • Freudvolle Aktivitäten:

    Musik machen oder hören, schreiben oder lesen, denken und lernen. Alles, was den Kopf satt macht, entlastet den Bauch.



  • Hunger von Appetit unterscheiden lernen:

    Wenn Sie nicht bereit sind einen Apfel zu essen, wenn sich das Bedürfnis nach Nahrung bemerkbar macht, haben Sie keinen Hunger, sondern Appetit, denn hätten Sie wirklich Hunger, würden Sie den Apfel essen.



P. S.: Friedrich Schiller hatte eine große Schwäche für Äpfel, so sagt man. Nicht, weil er sie so gerne aß, denn er ließ sie ganz bewusst in seiner Schreibtischschublade vergammeln.

Der faulige Apfelgeruch war für ihn wohl offenbar eine Quelle der Inspiration.






Comments


bottom of page