7 Todsünden • Wollust oder Luxuria
- R. W.

- 13. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Wollust - ein Wort wie ein verstaubter Spiegel: alt, schwer und von den Fingerabdrücken der Geschichte übersät. Man wähnt es in barocken Romanen oder hinter Klostermauern, doch es flackert tagtäglich durch unsere Bildschirme.
Was einst als Todsünde galt, swipet sich heute durch Dating-Profile, scrollt durch Podcast-Folgen und virale Tweets.
Das ist der Stoff, aus dem Klickzahlen gemacht sind. Doch was verbirgt sich wirklich dahinter?
Lust als neurobiologisches Orchester
Lust ist kein Fluch. Sie ist ein neurobiologisches Orchester, dirigiert von Dopamin, Oxytocin und dem limbischen System. Wir spüren sie, weil wir leben. Und doch wird sie gefährlich, wenn sie zu wichtig wird. Dann verwandelt sich das Spiel in Sucht und das Begehren in Ablenkung.
Die Mechanik der Lust
Die Mechanik der Lust ist einfach: Reiz, Auswahl, Bestätigung. Schnell, viel, immer wieder. Es ist, als würde man in eine Tüte Gummibärchen greifen bis sie leer ist. Man weiß, dass einem schlecht davon wird und trotzdem greift man wieder zu.
Was Wollust oft wirklich meint
Wollust ist selten nur das, was sie vorgibt zu sein. Oft ist sie ein Schauspiel, eine Art Improvisation über ein ganz anderes Thema. Statt um Sex geht es um Sehnsucht. Statt um Körper geht es um Trost. Um das Verlangen, nicht allein und einsam zu sein. Viele fühlen sich nach dem Sex lebendig. Aber dann: leer und schuldig. Und mit der Telefonnummer einer Person, deren Namen man vergessen möchte.
Wollust als Rüstung gegen Verletzlichkeit
Besonders komplex wird es, wenn sich Lust mit Angst verbündet. "Ich will frei sein" mag wie ein Bekenntnis zur Unabhängigkeit klingen, ist aber oft nichts weiter als eine Rüstung. Wer sich nicht einlässt, kann auch nicht verletzt werden. So wird aus Körperkontakt ein Schutzmechanismus. Man spielt Intimität vor, während man emotional die Luft anhält. Lust wird zur Maske, zur Pose oder zur Strategie.
Der Teufelskreis der Reizsteigerung
Wie jede Sucht kennt auch diese Spirale keine Obergrenze. Was gestern noch aufregend war, ist heute bereits Gewohnheit. Der Körper verlangt nach mehr Kick, und das Gehirn nach einem höherem Reiz. Nicht, weil man übermäßig lüstern wäre, sondern weil etwas Wichtiges fehlt. Das eigentliche Problem liegt tiefer. Und die Lust wird zur selbstgebauten Therapie gegen ein Gefühl, das man sich nicht zu benennen traut.
Ehrliche Fragen an sich selbst
Hier hilft kein Verzicht, sondern Einsicht. Die ehrliche Frage lautet: Was suche ich eigentlich? Geht es um Sex? Oder um Nähe? Um Kontrolle? Oder um Macht, beziehungsweise die Illusion, dass einen jemand so sieht, wie man gesehen werden möchte, ohne dass man sich so zeigt, wie man wirklich ist.
Fünf Reflexionsfragen zur Selbsterkenntnis
Fühlt sich mein sexuelles Verhalten nach einer Flucht oder einer Verbindung an?
Wäre ich bereit, das gleiche Gespräch auch ohne Sex zu führen?
Nutze ich Lust, um mich selbst zu bestätigen oder um jemandem nahe zu sein?
Was vermisse ich wirklich, wenn ich erneut eine Dating-App öffne?
Könnte ich das, was ich suche, auch anders bekommen?
Wollust, Scham und gesellschaftliche Erwartungen
Wollust ist kein neutrales Terrain, besonders immer noch nicht für Frauen. Gesellschaftlich eingeladen, begehrenswert zu sein, aber nicht zu begehren. Lust wird akzeptiert, wenn sie schön verpackt ist. Kommt sie jedoch ungebeten, wird sie mit Scham bestraft. Diese Scham wirkt wie ein alter Fluch. Sie macht krank. Studien zeigen: Wer sich für seine sexuellen Bedürfnisse schämt, leidet häufiger an depressiven Symptomen.
Sex als Spiegel für das Selbstbild
Und manchmal ist die Wollust nicht einmal für jemand anderen gedacht. Sie dient der Selbstspiegelung. „Ich bin begehrenswert, also bin ich." Wer sein Selbstwertgefühl über die Reaktion anderer reguliert, benutzt Sex und den anderen zur Beweihräucherung des eigenen Egos. Und irgendwann ist das eigene Abbild nicht mehr genug.
Lust als Ressource
Dabei ist Lust keine Feindin. Sie ist ein Teil des Lebens, wie Hunger oder Schlaf. Solange sie nicht zum Ersatz für andere Bedürfnisse wird, kann sie heilsam sein. Studien belegen, dass emotional verbundener, freiwilliger Sex sich positiv auf Körper und Psyche auswirkt. Er reduziert Stress, stärkt das Immunsystem, soll sogar die Lebenserwartung erhöhen. Wie Loriot einmal sagte: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos." Ersetze Mops durch Verbindung, und wir sind nah dran.
Wenn Sie bemerken, dass Ihre Lust zur Routine oder gar zur Flucht wird, probieren Sie Folgendes aus:
Schreiben Sie eine Woche lang abends auf, in welchen Momenten Sie Lust empfanden und was Sie in dem Moment eigentlich brauchten.
Machen Sie vor dem Impuls eine bewusste Pause und fragen Sie sich: "Will ich das gerade wirklich oder ist es bloß ein Reflex?"
Reden Sie mal mit einer vertrauten Person über das Thema.
Lust als Wegweiser
Wollust ist ein komplexes, psychodynamisches Frühwarnsystem. Sie zeigt, wo es brennt. Nicht moralisch, sondern emotional. Sie ist Spiegel, Impuls, Signal. Sie kann täuschen und zerstören oder verbinden und heilen.
Sie ist zutiefst menschlich und wer ihr zuhört, anstatt sie vorschnell zu verurteilen, kann viel über sich selbst lernen. Vielleicht sogar: lieben.
Also, liebe/r Leserin: Seien Sie gierig nach Selbsterkenntnis. Lustvoll beim Reflektieren und hemmungslos ehrlich mit sich selbst.



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