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Kafkas Angst

  • Autorenbild: R. W.
    R. W.
  • 30. Sept.
  • 2 Min. Lesezeit
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„Ich habe Angst vor dem Leben, Angst vor dem Reden, Angst vor dem Schweigen, Angst vor den Menschen, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor allem.“


Diesen Satz schrieb Franz Kafka im Jahr 1920 an Milena Jesenská.


Kafka lebte nicht mit der Angst – er bestand aus ihr. Sein Nervensystem war wie eine Antenne für das Unaussprechliche: überempfindlich, überanalysierend, vom bloßen Dasein überfordert. Und genau daraus entstand große Literatur.


Kafka war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Panik davor. Menschen waren ihm zu laut, zu fordernd, zu viel. Beziehungen waren seine inneren Krisengebiete.

Man könnte das heute vielleicht als „Hochsensibilität“ bezeichnen. Ein undurchsichtiges, in Samt gekleidetes Wort. Doch Kafkas Sensibilität war nicht sanft oder samten. Sie war scharfkantig, bedrohlich und chronisch.


Was früher als „Nervenschwäche“ galt, lässt sich heute neurobiologisch etwas besser nachvollziehen: ein überaktives Angstzentrum, ein Dauerfeuer von Cortisol, ein Körper im ständigen Alarmmodus. Bei Kafka war diese Überreizung kein Ausnahmezustand. Sie war seine Grundmelodie. Kein Angstanfall, sondern ein ganzes Leben aus Angst.


Und trotzdem - oder gerade deshalb - war er so schöpferisch. Seine Sprache hatte dunkle und sezierende Tiefe. Seine Sätze waren seismografische Linien, geschrieben von einem Menschen, der scheinbar nie wirklich festen Boden unter den Füßen hatte.


Was bedeutet das aber für uns? Im Zeitalter der Reizüberflutung?


Wir leben heute in einem permanenten Strom aus Reizen, Meinungen und Pushnachrichten. Und viele von uns spüren: Das ist zu viel. Zu viel Welt. Zu wenig Schutz.


Man muss kein Kafka sein, um leicht überfordert zu sein. Aber vielleicht sollten wir anfangen, uns selbst besser zuzuhören. Denn Angst ist nicht immer eine Störung. Manchmal ist sie ein Signal, dass die Welt gerade zu laut für uns ist.


Der einmalige Franz Kafka konnte seine Angst zeitlebens wohl nicht überwinden. Aber er verwandelte sie in Sprache. Und sie wirkt Wunder bis heute und erschafft - Kafkaeskes.


Und vielleicht ist das die eigentliche Lektion: Nicht jede Angst lässt sich wegtrainieren oder optimieren. Manche bleibt. Doch in ihr liegt auch ein seltsames Rohmaterial für Tiefe, für Klarheit und für Kunst.

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