Die Geschichte von Lüge und Wahrheit
- R. W.
- 9. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Apr.

Es war ein Tag, an dem die Welt in einem sanften Licht schimmerte, als die Wahrheit und die Lüge sich trafen. Die Lüge, mit ihrem unnachahmlichen Charme und ihrer Fähigkeit, Worte wie Seide zu weben, sagte: „Heute ist ein wunderbarer Tag!“ Die Wahrheit, stets skeptisch und doch empfänglich für die Schönheit der Welt, hob den Blick zum Himmel. Sie sah das weite Blau. Es war tatsächlich ein schöner Tag.
Die beiden waren ein seltsames Paar. Die eine beständig und schwer wie Stein, die andere leichtfüßig und flüchtig wie Nebeldunst. Sie sprachen über dies und das, über die Natur der Dinge und die Art, wie Menschen ihre Geschichten formen. Schließlich kamen sie zu einem Brunnen. Die Lüge hielt inne, ihre Augen funkelten. „Das Wasser ist herrlich“, sagte sie mit samtiger Stimme. „Komm, lass uns etwas abkühlen und baden gehen.“
Die Wahrheit zögerte. Sie war vorsichtig - nicht aus Angst vor der Lüge selbst, sondern vor dem, wofür jene stand: Für die Möglichkeit, dass das Offensichtliche nicht immer wahr ist. Der Tag ist wirklich schön, dachte sie. Sie prüfte das Wasser und stellte fest, dass es tatsächlich angenehm war. Also entkleideten sie sich beide und tauchten ein.
Es war in diesem Augenblick – einem Augenblick scheinbarer Harmonie – in dem die Lüge ihr wahres Wesen offenbarte. Sie sprang plötzlich aus dem Brunnen heraus, griff nach den Kleidern der Wahrheit und verschwand. Die Wahrheit aber blieb zurück, nackt und verletzlich unter dem offenen, blauen Himmel.
Als sie endlich aus dem Brunnen stieg und sich auf die Suche nach der Lüge machte, begegnete sie den Blicken der Menschen. Doch diese wichen ihr aus – nicht aus Abscheu vor ihr als Wesen - sondern vor dem, was sie darstellte - eine ungeschönte Wirklichkeit. Die arme Wahrheit kehrte zum Brunnen zurück, verschwand darin und versteckte so für immer ihre Scham.
Die Lüge hingegen bewegte sich frei in der Welt – gekleidet in den hellgrauen Mantel der Wahrheit. Sie wurde willkommen geheißen und bewundert für ihre Eleganz und ihr Geschick. Doch unter dieser Fassade verbarg sich Unruhe und Gewissheit, dass ihre Existenz nur so lange dauern würde, wie niemand genauer hinsah.
Die Wahrheit mag unbequem sein; sie zwingt uns zum Nachdenken und fordert uns heraus. Aber die Lüge bietet meistens eine Erzählung an, die leichter zu akzeptieren ist. Eine Illusion von Ordnung und Sicherheit inmitten des Chaos.
Die Geschichte von der Wahrheit und der Lüge, die sich treffen und schließlich im Brunnen baden, ist keine spezifische Erzählung eines einzelnen Autors, sondern basiert auf einer Legende aus dem 19. Jahrhundert. Sie wird häufig mit dem Gemälde "La Vérité sortant du puits" (Die Wahrheit kommt aus dem Brunnen) von Jean-Léon Gérôme aus dem Jahr 1896 in Verbindung gebracht. Das Motiv der Geschichte wird einem Aphorismus des Philosophen Demokrit zugeschrieben, welcher lauten soll: „Von der Wahrheit wissen wir nichts, denn die Wahrheit liegt tief im Brunnen“.
Gemälde: "La Vérité sortant du puits" (Die Wahrheit kommt aus dem Brunnen) von Jean-Léon Gérôme
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