top of page

Die Scham – still, aber unerbittlich

  • Autorenbild: R. W.
    R. W.
  • 6. Apr.
  • 2 Min. Lesezeit

Ein Theaterstück - die Hauptfigur stets im Schatten,  aber dennoch die gesamte Handlung lenkend. Das ist die Scham – eine Meisterin der subtilen Beeinflussung, eine unsichtbare, aber übermächtige Regisseurin unseres sozialen Lebens. Während die Angst laut schreit oder sich tot stellt und die Wut tobt, zieht sich die Scham erst ganz leise zurück um dann mit einer großen Welle unser Inneres zu überfluten.

 

Die seltsame Verräterin


Während wir unsichtbar bleiben wollen, drängt sie uns ungefragt ins Rampenlicht. Ohne Vorwarnung verfärbt sie unser Gesicht – ein wortloses Geständnis, das wir nicht unterdrücken können.


Schuld daran ist unser sympathisches Nervensystem, das auf Scham wie auf Gefahr reagiert: Adrenalin schießt ins Blut, die Gefäße im Gesicht weiten sich - eine sogenannte Vasodilatation - und TaTaaaaaa - wir werden rot. Aber warum?

Evolutionär gesehen könnte das Erröten unser sozialer „Reset-Knopf“ sein. Es signalisiert Reue, noch bevor wir etwas sagen können, zeigt es den anderen, dass wir unser Fehlverhalten eingesehen haben. Eine unfreiwillige Charmeoffensive, die uns vor dem Ausschluss aus der Gruppe bewahren soll?

Ironischerweise macht uns die Scham gerade dann sichtbar und verrät uns, wenn wir uns verstecken wollen. Unser Körper scheint einen ganz eigenen Sinn für Humor zu haben.

 

Warum die Evolution uns mit Scham ausstattete


So unangenehm sie auch sein mag, hat sie ihren evolutionären Sinn. Sie ist eine Art psychisches Immunsystem der Gesellschaft, sorgt für Ordnung, Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl. Sie ist also nicht nur lästig, sondern auch nützlich. In der Steinzeit bedeutete der Ausschluss aus der Gruppe den sicheren Tod. Heute hilft sie uns manchmal nach dem Motto zu handeln: „Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben.“ Boethius



Scham vermeiden – eine olympische Disziplin


Die Menschheit hat kreative Wege entwickelt, Scham aus dem Bewusstsein zu verbannen. Wir kompensieren sie mit Perfektionismus, überspielen sie mit Arroganz oder verpacken sie in Wut. Manche lenken sich ab, andere ziehen sich zurück, andere ergreifen die Flucht nach vorn und offenbaren ihre Peinlichkeiten gleich selbst – bevor es jemand anderes tut. Soziale Medien sind eine Bühne für dieses Phänomen: Wer sich selbst bloßstellt, nimmt anderen die Macht, es zu tun. Eine Messerspitze Humor würde das Ganze schmackhafter und erträglicher machen.


Was tun, wenn die Scham zu laut wird?


Scham ist nicht per se unsere Feindin. Aber wenn sie zum beherrschenden Gefühl wird, wenn sie unser Selbstwertgefühl aushöhlt, dann dürfen wir uns folgendes fragen: "Wer ist das eigentlich der da in mir spricht, wenn ich mich klein fühle?" Oft sind es alte und überholte Urteile der Eltern, Lehrer oder anderer Bezugspersonen - und überhaupt - welche dieser Glaubenssätze treffen heute noch zu?


Anstatt Scham als Feindin zu bekämpfen, sollten wir ihr aufmerksam zuhören, denn sie ist oft nur ein Hinweis für tieferliegende Bedürfnisse und Verletzlichkeiten.


Die angemessene Reaktion könnte nicht Selbstverurteilung, sondern Mitgefühl sein. Die Fähigkeit, sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit zu begegnen, die wir einer guten Freundin entgegenbringen, ist eine Kunst, die Übung & Ausdauer erfordert. Aber - sie lohnt sich.

 

 

Skulptur: ©Berlinde De Bruyckere, "V. Eeman," 1999 © Berlinde De Bruyckere, Belfius Art Collection

Foto: ©Mirjam Devriendt

Comments


bottom of page