Fragmente über das Menschsein - Teil 1
- R. W.
- 24. Aug.
- 3 Min. Lesezeit

Der Körper denkt mit
Es wäre ein Missverständnis, den Körper lediglich als Träger der Psyche zu betrachten, als sei er eine Bühne, auf der das seelische Drama inszeniert wird, ohne selbst daran beteiligt zu sein. Tatsächlich greift Bewegung tief in unsere seelischen Prozesse ein. Studien weisen darauf hin, dass regelmäßige körperliche Aktivität bei depressiven Verstimmungen vergleichbare Effekte zeigen kann wie manche Psychotherapie. Doch auch jenseits der Statistik ist es intuitiv richtig, sich zu bewegen, wenn das Innere stillzustehen droht. Beim Gehen beginnen die Gedanken zu wandern und beim Laufen lockern sich innere Verhärtungen. Manchmal ist der einfachste Weg zur geistigen Klarheit jener, der durch den eigenen Körper führt.
Gedanken sind keine Wahrheit, sondern Phänomene.
Wir Menschen erleben uns als Opfer unser eigener Gedanken und sind der Meinung, sich von ihnen nicht lösen zu können. Dabei wäre es hilfreicher, dieses Phänomen als ein Ereignis im Bewusstsein zu betrachten. Wie Wolken, die vorüberziehen, statt wie Naturgesetze. In der Akzeptanz- und Commitment-Therapie wird dies als „kognitive Defusion“ bezeichnet: der Augenblick, in dem man einen inneren Satz erkennt und sich erlaubt, ihn nicht für absolut zu halten.
Beispiel: 1. Ich bin nutzlos. 2. Ich habe den Gedanken, dass ich nutzlos bin. 3. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich den Gedanken habe, dass ich nutzlos bin.
Es entsteht dadurch Distanz. Man wird nicht mehr vom inneren Film verschlungen, sondern sitzt im Zuschauerraum und hat die Freiheit, den Raum auch mal zu verlassen. Oder, um es mit den Worten der Buddhisten zu sagen: Der Geist ist ein wilder Affe, aber Sie müssen nicht auf jeden Baum klettern, auf den er Sie lockt.
Vermeidung ist eine elegante Kurzfristlösung mit hohem Preis.
Kleine Kinder wenden eine intuitive Strategie an. Sie schließen die Augen und hoffen, dass das Monster verschwindet. Und verschwindet das Monster? Wohl kaum. Leider wenden viele Erwachsene diese Methode noch immer an. Die Vermeidung fühlt sich oft an wie Fürsorge für sich selbst. Man verschiebt das unangenehme Gespräch, ignoriert die längst überfällige Rechnung oder schweigt, obwohl es besser wäre, etwas zu sagen. Doch das menschliche Nervensystem lernt mit. Was kurzfristig beruhigt, verankert sich langfristig als Muster. So entstehen enge Schleifen, in denen aus dem Verzicht auf Konfrontation eine wachsende Angst vor ihr entsteht. Der Ausweg ist selten heroisch. Vielmehr beginnt er mit kleinsten Schritten in Richtung dessen, was man fürchtet. Man nähert sich vielleicht zögerlich, aber ehrlich und stellt fest, dass die Bedrohung aus der Ferne oft größer erschien, als sie in der Nähe tatsächlich ist.
Nähe als biologische Notwendigkeit
Wir leben in einer Zeit, die Autonomie glorifiziert. Doch unsere Biologie erinnert uns daran, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Nähe ist kein sentimentaler Zusatz, sondern Teil unseres Überlebenssystems. Soziale Verbundenheit reguliert unsere Affekte, schützt uns vor Überwältigung und stärkt unsere Immunabwehr. Wenn Sie sich nach Kontakt sehnen, ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern ein physiologischer Ruf nach Sicherheit. Nähe heilt zwar nicht alles, aber sie macht vieles erträglicher. Und sie erinnert uns daran, dass wir trotz aller Individualität im Innersten verbunden sind.
Flow schlägt Selbstanalyse
Es gibt Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Beim Musizieren, beim Schreiben oder sogar beim Schneiden von Gemüse. Solche Zustände nennt die Psychologie „Flow“. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass man ganz in der Tätigkeit aufgeht, ohne sich dabei selbst zu beobachten. In einer Welt, die zur permanenten Selbstbeobachtung tendiert, ist Flow eine tiefwirkende Form der Erholung. Es ist, als würde das Ich für einen Moment Pause machen, damit das Sein atmen kann. Es lohnt sich, denn wer immer nur über sich nachdenkt, wird sich irgendwann selbst im Weg stehen.
Teil zwei folgt
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