Ein Blick in die psychologische Selbstverteidigung
- R. W.
- 22. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Apr.

Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, wie Sie nach einem langen Arbeitstag mit einer XL-Tüte Chips und einer Serie etliche Stunden später immer noch komatös auf dem Sofa liegen und sich einreden, das sei eine „wohlverdiente Belohnung“?
Glückwunsch! Sie haben soeben einen Abwehrmechanismus in Aktion erlebt.
Abwehrmechanismen sind psychologische Schutzschilde, die unser Gehirn einsetzt, um Angst, Stress oder innere Konflikte zu bewältigen. Das Konzept stammt von Sigmund Freud, und obwohl Freud sicherlich einige gewagte Theorien hatte (wir erinnern uns an den Ödipuskomplex), hatte er bei den Abwehrmechanismen definitiv einen Treffer gelandet. Manche dieser Strategien helfen uns dabei, emotional stabil zu bleiben – andere hingegen sind weniger hilfreich.
Lassen Sie uns einen Blick auf die wichtigsten Abwehrmechanismen werfen – mit einer Prise Humor und etwas wissenschaftlichem Tiefgang.
1. Sublimierung: Picasso der Emotionen
Diese Art der Abwehr ist reif, hilfreich und ziemlich produktiv
Wer kennt es nicht? Der Boss hat mal wieder ein sinnloses und zeitraubendes Meeting anberaumt. Anstatt den Ärger an Unbeteiligten (könnte man ja machen) auszulassen, verwandelt man diesen Frust in einen energischen Feierabendlauf. Sublimierung bedeutet, negative Impulse kreativ oder konstruktiv zu nutzen. Freud hätte „Bravo!“ gesagt - vermutlich.
Genervt? Malen Sie ein äußerst expressionistisches Porträt vom Boss.
Wütend? Schreiben Sie einen Bestseller über Fremdgehen am Arbeitsplatz. Oder denken Sie wie Adorno: „Wenn man denken kann, hat man keine Wut, denn Denken hat die Wut sublimiert."
2. Humor: Lachen ist die beste Therapie
Reif, charmant – und oft überlebensnotwendig
Ein Klassiker unter den Abwehrmechanismen: Statt in Selbstmitleid zu versinken, machen wir Witze über unsere Missgeschicke und unsere Ängste.
„Das Leben ist voller Leid, Einsamkeit und Elend – und es ist viel zu schnell vorbei.“ (Woody Allen)
Freud betrachtete „Humor als die vornehmste der seelischen Abwehrmechanismen.“ Er sah es als eine Art psychologischen Schutzschild – nicht durch Verdrängung oder Verleugnung, sondern durch eine spielerische Neubewertung der Realität.
Statt an ihr zu verzweifeln, kann man durch humorvolle Distanz eine gewisse Kontrolle zurückgewinnen.
3. Verdrängung: Das Gehirn spielt Tetris mit Erinnerungen
Reif, aber manchmal problematisch
Verdrängung ist wie eine mentale „Löschen“-Taste – nur dass sie eher in einen „Temporär-Ordner“ verschiebt.
Erinnern Sie sich noch an DEN peinlichen Moment, als Sie aus Versehen ... haben? Nein? Gut, das ist Verdrängung.
Traumatische Karaoke-Erfahrung beim Weihnachtsfest im Büro vergessen? Check!
Erster Kuss mit Pete/Tilda? Nur ganz, ganz dunkel. Check!
4. Verschiebung: Wenn der Boss nervt, aber der Lieblingskellner dran glauben muss.
Unreif, aber leider sehr verbreitet
Ihr Boss hat Ihnen gerade eine Extraportion Arbeit für das Wochenende auf den Tisch gelegt, aber statt ihn anzubrüllen, motzen Sie abends den Kellner in der Lieblingsbar an, weil der Martini gerührt und nicht geschüttelt ist. Klassische Verschiebung! Das eigentliche Problem bleibt ungelöst, aber wenigstens hat der Dampf irgendwo ein Ventil gefunden – leider oft auf Kosten anderer.
Noch eine Kleinigkeit zum Thema Boss: Rudolf Abel in Bridge of Spies: „Well, the boss isn't always right. But, he's always the boss.“
5. Projektion: Spiegel, Spiegel an der Wand…
Unreif, aber raffiniert
Schon mal jemanden getroffen, der seiner Frau fälschlicherweise Untreue vorwirft? Was könnte da wohl mit ihm los sein, der so etwas denkt?
In Beziehungen kann das zu Misstrauen, Eifersucht und Kontrolle führen – obwohl die Quelle des Problems nicht beim Partner oder der Partnerin, sondern im eigenen Inneren liegt.
„Das Ich projiziert nach außen, was es in seinem Inneren nicht wahrhaben kann.“ (Freud. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1901)
6. Idealisierung: Die rosarote Brille deluxe
Unreif, aber anfangs sehr angenehm
Erinnern Sie sich an den ersten Schwarm aus der Schulzeit, den Sie für die perfekte Verkörperung eines romantischen Helden hielten? 15 Jahre später sieht man alte Fotos und denkt sich im Stillen: Was genau war los mit mir? Ich muss blind gewesen sein. Typisch für "Puberkulose-Phase".
Idealisierung ist eine beliebte Strategie, um Unsicherheiten zu übertünchen – leider oft mit späterem Realitätskater.
Neue Partnerin? „Endlich perfekt!“ (Spoiler: Niemand ist es.)
Neuer Job? „Hier wird jetzt endlich alles besser!“ (Spoiler: Meetings gibt es überall.)
7. Verleugnung: Was ich nicht sehe, existiert nicht
Unreif – und manchmal ein gefährliches Ticket – reality check vonnöten
„Der beißt nicht! Der will nur spielen!“ Besitzer eines knurrenden Schäferhundes
Raucher, die sagen „Mein Opa hat auch geraucht und wurde 90!
Verleugnung ist die Kunst, die Realität passend umzudekorieren. Funktioniert kurzfristig, endet aber oft in hässlichen und schmerzhaften Überraschungen.
8. Regression: Zurück in die Kindheit
Unreif, aber manchmal einfach nötig
Manche Tage verlangen einfach nach einer Kuscheldecke, Bienenstich und Kinderbuch. Regression bedeutet, in stressigen Zeiten in kindliche Muster zurückzufallen – sei es durch Trotzreaktionen oder den Wunsch, sich von der Welt umarmen zu lassen.
Heulen, weil das Internet ausfällt? Check.
Bockig sein, wenn es nicht so läuft wie erwartet? Check.
Michel aus Lönneberga als Krisenbewältigung? Absolut erlaubt!
Ob nun durch Humor, Sublimierung oder einer Runde unbewussten Verdrängens – unser Gehirn tut sein Bestes, um uns vor emotionalem Overload zu bewahren (s. o.) . Manche dieser Abwehrreaktionen machen uns produktiver, andere sind eher psychologische Umwege. Aber solange wir uns nicht bockig im Supermarkt auf dem Boden wälzen oder mit eingebildeten Rückenschmerzen ständig Meetings vermeiden, ist alles noch im erträglichen Bereich.
Und falls doch nicht? Mit Humor nehmen. Oder ganz einfach - elegant verdrängen.
Sehr geehrte Frau Werbicki,
vielen herzlichen Dank für Ihren „Blick in die psychologische Selbstverteidigung”. Nach geraumer Zeit habe ich genau nach einem pointierten Artikel zu diesem Thema gesucht.
Mit freundlichen Grüßen pp