NO BODY IS PERFECT - BUDDY!
- R. W.
- 27. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen

Zwischen den Welten
"Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger/in jenes anderen Ortes auszuweisen." - Susan Sontag
Das Leben im Schatten – Leben mit unsichtbarer Krankheit
Es gibt Krankheiten, die laut sind. Sie tragen Gips, haben Ausschlag oder eine Glatze. Sie sind polyglott und sprechen deswegen eine Sprache, die jeder versteht: Diagnose, Bild, Laborwert.
Und dann gibt es die anderen. Die, die sich im Stillen einnisten. Sie verstecken sich im Nervensystem, in einer Müdigkeit, die selbst nach zehn Stunden Schlaf nicht weicht. Sie zeigen sich in einem Blick, der abschweift, in Schmerzen ohne Entzündungswerte, in einem Leben, das nach außen funktioniert und innen einem Knockout gleicht.
Ich erinnere mich an, ich nenne sie mal A., sie war immer pünktlich, immer strahlend, immer zurechtgemacht. Erst nach einer Weile erzählte sie mir, dass sie morgens manchmal eine Stunde braucht, um aus dem Bett zu kommen. "Ich habe gelernt, mich zu tarnen", sagte sie und lächelte dabei. Es war kein Klagen, sondern ein Statement.
Die Kunst des Tarnens
Viele Betroffene, so wie A., entwickeln eine Art soziales Mimikry. Sie lächeln höflich, nicken verständnisvoll und sind bemüht, jede noch so kleine Dissonanz im Keim zu ersticken. Doch hinter dieser Fassade sieht es oft ganz anders aus: Für Streit, Missklänge und das anschließende emotionale Aufräumen fehlt schlichtweg die Kraft.
Aber keine Sorge, das ist kein Zeichen von Schwäche! Im Gegenteil: Es ist eine hohe Kunst des Überlebens und der Anpassung. Es sind keine Feiglinge, sondern wahre Meister dieser Maskierung – immer bereit, das Unangenehme mit einem gekonnten Lächeln zu umschiffen. Zumindest so lange, bis am Horizont der unvermeidliche Eisberg auftaucht.
Fatigue zum Beispiel klingt wie ein fluffiges, französisches Dessert, fühlt sich aber eher an als wäre man in einen Zementsack eingenäht. Diese Erschöpfung ist nicht „Ich bin mal müde“, sondern „Ich bin ganz unten auf dem Grund und kann nicht mehr hoch“. Sie schreit nicht, sie macht keine Szene. Sie ist konstant, zäh und immer gegenwärtig.
Genauso wie Menschen mit Fibromyalgie, ME/CFS oder Long COVID leben sie im Dauerzustand des TROTZDEM: trotzdem arbeiten, trotzdem zuhören, trotzdem durchhalten. Was man nicht sieht, ist wie viel Kraft allein der Weg zur Bushaltestelle kostet. Oder das Nichtabsagen eines Treffens. Funktionieren wird zur täglichen Mutprobe.
Ich funktioniere, also bin ich?
In einer Welt, die die Selbstoptimierung zum Leistungssport erklärt hat, ist das Nichtkönnen verdächtig. Wer sich ausruht, gilt als ineffizient. Wer innehält, als suspekt. Wer ehrlich sagt, dass er nicht mehr kann, bekommt oft zu hören: „Du musst kämpfen!“ Als wäre Gesundheit eine Frage der Kriegstaktik und wenn du diesen Krieg verlierst? Was bist du dann? Ein/e Versager/in und selbst schuld daran, dass du die Angelegenheit immer noch nicht in den "Griff bekommen hast"!?
Doch eine der wichtigsten therapeutischen Erkenntnisse ist tatsächlich ganz einfach:
Du darfst erschöpft sein.
Du musst niemandem etwas beweisen.
Du musst dich nicht schämen, wenn du die Erwartungen anderer nicht erfüllst.
Du bist mehr als dein Output, denn manchmal reicht es völlig ein Meister im Tagträumen zu sein.
Lassen wir mal Lady Gaga, die selbst mit Fibromyalgie lebt, zu Wort kommen:
„Ich war oft mehr damit beschäftigt, meinen Schmerz zu erklären, als ihn zu fühlen.“
Der Wunsch nach einer Welt, in der ein schlichtes „Heute geht’s nicht“ reicht, ist kein Luxus. Er ist notwendig und sollte herrstellbar sein.
Alltag zwischen Anpassung und Mut
Was tun, wenn der eigene Körper nicht mehr nach Plan funktioniert?
Rhythmus statt Routine. Kein Stundenplan bitte, sondern Tagespuls.
Reizschutz einbauen: weniger Multitasking, mehr Pausen, kein Autopilot.
Pacing lernen: Energie einteilen, nicht als Lifestyle, sondern als Lebenskunst.
Den Körper ernst nehmen: nicht als Feind, sondern als Signalgeber. Kleine Rituale statt großer Pläne.
Wissen dosieren: Nicht alles googeln, aber verstehen, was im eigenen Körper passiert – aus vertrauenswürdigen Quellen.
Und vor allem: Selbstmitgefühl üben.
„Mitgefühl mit sich selbst bedeutet nicht, schwach zu sein. Es bedeutet, sich nicht länger gegen sich selbst zu wenden.“ - Kristin Neff
Wie man für andere da sein kann
Menschen mit unsichtbaren oder mit sichtbaren Krankheiten brauchen keine Ratschläge. Sie brauchen Empathie. Ein offenes Ohr, eine ehrliche Frage wie „Was brauchst du heute?“ kann mehr helfen als jeder noch so gut gemeinte Rat-Schlag.
Was hilft?
Einfach zuhören, ohne zu bewerten.
Glauben, ohne zu überprüfen.
Da sein, ohne etwas zu verlangen.
Fragen statt wissen: „Was kann ich tun? Was brauchst du? Wie kann ich es tun?“
Angebote machen ohne Bedingungen: „Ich fahre dich, wenn du willst. Ich warte auch - falls erwünscht.“
Was hilft nicht?
„Du siehst doch ganz fit aus.“
„Meine Tante hatte das auch – da hat Yoga ganz gut geholfen.“
„Du bist so negativ. Das ist nicht gut. Sei etwas positiver. Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
„Du musst kämpfen!“ – Nein, muss ich nicht. Aber DU solltest einfach schweigen und mal zuhören.
Und wenn du selbst betroffen bist?
Du bist nicht faul. Nicht empfindlich. Nicht „nicht belastbar“.
Du bist mutig, weil du jeden Tag mit dir selbst verhandelst – und ja - trotzdem atmest, denkst, liebst. Auch wenn du gerade nicht „funktionierst“.
Vielleicht bist du gerade deshalb lebendig, besonders und liebenswert - ein echtes Unikat eben - und kein Fake.
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